Kann eine tote Frau ein Kind gebären?
Der Fall einer Schwangeren, die 20 Wochen nach der Feststellung des „Hirntodes“ ein Kind zur Welt gebracht hat, wirft ein besonderes Schlaglicht auf die Diskussion zur Einführung der „Widerspruchsregelung“ für Organtransplantationen.
Wie tot ist „hirntot“? „Ganz tot“ oder „ziemlich tot“? Gibt es da Abstufungen – oder kann es zwischen Tod und Leben nur eine scharfe Grenze geben? Der Tod lässt sich im Grunde nur als das Gegenteil des Lebens denken, als Abwesenheit von Lebenszeichen. Das scheint in der Theorie einfach zu sein. Im wirklichen Leben gibt es Abgrenzungsprobleme.
Seit jeher war man der Auffassung, bei der Todesfeststellung „auf der sicheren Seite“ bleiben zu sollen. Daher wurde abgewartet, bis die „sicheren Todeszeichen“ vorlagen: Leichenflecken, Leichenstarre, Verwesung. Seit die moderne Medizin in der Lage ist, Organe zu verpflanzen, ist das nicht mehr so. Man will möglichst „lebendige“ und „frische“ Organe gewinnen. Daher reicht es gegenwärtig für die Todesfeststellung aus, wenn nur das Organ Gehirn funktionsunfähig geworden ist. Diese Reduktion des Menschen auf sein Gehirn war und ist umstritten, hat sich aber in der medizinischen Praxis weitgehend durchsetzen können.
Reduktion auf das Gehirn war und ist umstritten
Ein besonderes Schlaglicht auf den „Hirntod“ als Voraussetzung von Organtransplantationen wirft der Fall einer „hirntoten“ Schwangeren, der sich im Jahr 2018 in Würzburg zugetragen hat. Er wurde kürzlich in der medizinischen und juristischen Fachpresse veröffentlicht (Reinhold AK et al., casereports.bmj.com Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2019, S. 1821).
Bei einem Verkehrsunfall hatte eine 29-jährige Frau schwere Hals- und Kopfverletzungen erlitten. In der Klinik wurde eine Frühschwangerschaft (ca. 9. Schwangerschaftswoche) festgestellt. Als nach einigen Tagen der Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen diagnostiziert worden war, stellte sich die Frage, ob die Behandlung der Schwangeren fortgesetzt oder beendet werden sollte. Als weiteres Problem kam hinzu, dass die Angehörigen den Ärzten eine positive Einstellung zur Organspende berichtet und eine Organentnahme befürwortet hatten. Damit standen die Beteiligten vor mehreren Handlungsalternativen: Einstellung der Behandlung (da die Patientin „tot“ war), Entnahme von Organen ohne Rücksicht auf die Schwangerschaft oder Fortsetzung der Behandlung mit dem Ziel, dem ungeborenen Kind eine Lebenschance zu geben.
Nach intensiven Konsultationen mit dem Betreuungsgericht wurde die Behandlung der Patientin fortgesetzt. Das Gericht bestellte den Lebensgefährten der Schwangeren und deren Schwester zu rechtlichen Betreuern der Betroffenen. Nach weiteren 20 Wochen auf der Intensivstation brachte die Patientin ein gesundes Mädchen zur Welt. Anschließend wurden der jungen Frau – ihrem Wunsch entsprechend – Organe entnommen. Das Kind kam in die Obhut des leiblichen Vaters und der Familie der Verstorbenen und entwickelt sich nach den Angaben der Angehörigen seitdem ohne Auffälligkeiten.
Leben in einer Leiche?
Unter den in der Fachliteratur dokumentierten ähnlich gelagerten Fällen stellt dieser Fall insofern eine Besonderheit dar, als es sich um die bislang längste Schwangerschaft einer „hirntoten Schwangeren“ handelte, das Kind durch Spontangeburt zur Welt kam und darüber hinaus auch noch eine Organentnahme durchgeführt wurde.
Dieser besondere Fall markiert nicht nur eine tragische Wendung im Schicksal eines jungen Paares, sondern wirft erneut die grundsätzliche Frage auf, welchen Rechtsstatus man einer Patientin (oder einem Patienten) mit Hirnfunktionsausfall zubilligt. Nach Auffassung des Vorstands der Bundesärztekammer ist mit dem „irreversiblen Hirnfunktionsausfall“ gleichzeitig auch „naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt“. War die Patientin also 20 Wochen lang tot, bis sie das Kind zur Welt gebracht hat? Lebte das Kind mehr als 140 Tage lang in einer Leiche?
Keine Gleichsetzung von „Hirntod“ und Tod
Hier scheinen Theorie und Wirklichkeit weit voneinander entfernt zu sein. Weder die Angehörigen, noch die beteiligten Ärzte und Pflegekräfte haben die Betroffene als Leiche behandelt. Selbst wenn die Bild-Zeitung von dem Fall Wind bekommen hätte, wäre als Schlagzeile wohl kaum „Leiche bringt nach 20 Wochen lebendes Kind zur Welt!“ formuliert worden. Und auch das Betreuungsgericht hat sich in diesem Fall gegen die Gleichsetzung von „Hirntod“ und Tod entschieden. In seinem Beschluss vom 13.02.2018 heißt es, dass der Gesetzgeber darauf verzichtet habe, „den Ganzhirntod als allgemeines Kriterium für den Tod des Menschen in allen Rechtsbereichen festzulegen“. Das Amtsgericht sah einen Fürsorgebedarf für die junge Frau im Sinne des Betreuungsrechts und führt zur Begründung seiner Zuständigkeit unter anderem aus:
- „Das Gericht sieht in der Betroffenen keine Leiche. Die traditionellen „sicheren Todeszeichen“ – Leichenflecken, Leichenstarre, Verwesung – liegen … nicht vor.
- Dagegen sind zahlreiche Lebenszeichen gegeben: das Herz schlägt (ohne Impulsgebung durch das Gehirn), das Blut zirkuliert in den Adern und erreicht fast alle Körperteile, die Sauerstoffanreicherung des Bluts in den Lungenbläschen funktioniert, das vegetative Nervensystem ist intakt, Nahrung wird im Verdauungstrakt verwertet und die Nährstoffe werden aufgenommen, das Blut wird gereinigt, die Ausscheidung von Abfallstoffen über den Darm sei intakt, ebenfalls das Immunsystem, das Knochenmark produziere laufend neue Blutkörperchen, spinale Reflexe seien vorhanden, Haare und Nägel wachsen, bei oberflächlicher Verletzung würde die Betroffene zunächst bluten und anschließend die Wunde heilen.
- Trotz des Ausfalls der Gehirnfunktion ist der Körper der Betroffenen als Ganzes lebendig – abzüglich des Gehirns. Viele Lebensvorgänge sind von der Funktionsfähigkeit des Gehirns offenbar unabhängig.
- Die Betroffene ist schwanger. Das Kind in ihrem Leib lebt und entwickelt sich. Ein Körper, der zum Austragen einer Schwangerschaft fähig ist, ist lebendig. Leichen sind nicht in der Lage, eine Schwangerschaft auszutragen. Die Prognose bezüglich der Schwangerschaft ist nach Auskunft des Arztes Dr. … nicht von vornherein aussichtslos.
- Die Betroffene ist in vergleichbarer Weise lebendig wie andere bewusstlose und beatmete Patientinnen bzw. Patienten auf der Intensivstation.“
„Hirntote“ weisen offensichtlich viele Lebenszeichen auf und sind, wenn es sich um schwangere Frauen handelt, bei intensiver medizinischer Betreuung in der Lage, über Monate hinweg ein Kind auszutragen und zu gebären. Gerade die lange „Überlebenszeit“ widerspricht der Annahme, man habe es schon mit einem „toten“ Körper, also mit einer Leiche zu tun. Wenn aber bei den länger lebenden Patientinnen nicht davon ausgegangen werden kann, dass schon der Tod eingetreten ist, dann muss das prinzipiell auch für weniger lang überlebende „Hirntote“ gelten.
Organspende nur bei Zustimmung
Von den Verfechtern des Hirntodkonzepts wird daher versucht, die längere Lebenszeit von Schwangeren mit Hirnfunktionsausfall so darzustellen, als ginge hierbei die Lebendigkeit der Mutter eigentlich von ihrem ungeborenen Kind aus. So heißt es in der Broschüre „Was ist der Hirntod?“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: „Das Ungeborene selbst kann bereits über einige aktive Stoffwechselleistungen, die es an die ‚hirntote Mutter‘ erbringt, an der Aufrechterhaltung der Schwangerschaft mitwirken: Das intakte kindliche Gehirn sendet dann rückwärtig Botenstoffe in den mütterlichen Kreislauf aus.“ Ferner wird die Behauptung aufgestellt: „Dies gelingt nur für weit fortgeschrittene Schwangerschaften.“
Wie der vorliegende Fall zeigt, ist das nachweislich falsch, da eine Schwangerschaft in der 10. Woche sicher nicht „weit fortgeschritten“ ist. Vor allem aber sind Spekulationen über eine Art „Fernsteuerung“ des mütterlichen Organismus durch das Gehirn des Embryos nicht geeignet, Zweifel an der Lebendigkeit des mütterlichen Organismus zu wecken. Bei jeder Schwangerschaft findet ein Austausch von Stoffen und Signalen zwischen dem Embryo und dem Körper der Schwangeren statt. Damit dieser „embryo-maternale Dialog“ überhaupt zustandekommen kann, muss die Mutter selbst lebendig sein. In einer Leiche wäre die Fortsetzung einer Schwangerschaft nicht möglich.
Patienten mit Hirnfunktionsausfall sind noch nicht tot
Die im Würzburger Fall nach der Entbindung durchgeführte Organentnahme war demnach die Organspende einer Lebenden. Leichen können weder schwanger sein noch lebensfrische Organe spenden. Doch genau dieser Erkenntnis verschließen sich die meisten Befürworter der Transplantationsmedizin. Eine Gruppe um Bundesgesundheitsminister Spahn will sogar jeden, der nicht ausdrücklich widersprochen hat, zum „Organspender“ deklarieren (sogenannte „Widerspruchsregelung“). Wenn aber Patienten mit Hirnfunktionsausfall noch nicht tot sind — was sich bei „hirntoten Schwangeren“ besonders deutlich zeigt -, dann ist eine solche Regelung inakzeptabel. Organentnahmen bei schwerstgeschädigten, aber noch nicht gestorbenen Patienten können allenfalls dann vom Gesetzgeber zugelassen werden, wenn der Patient selbst zugestimmt hat. Ein Verfügungsrecht über Sterbende darf es nicht geben.
Quelle: Die Tagespost