Die Zukunft Euro­pas ange­sichts der Kul­tur des Todes

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Diens­tag 21. Janu­ar 2020 von Prof. Dr. Man­fred Spieker

Der erfreu­lich gro­ßen Sen­si­bi­li­tät des heu­ti­gen Men­schen für die ihn umge­ben­de außer­mensch­li­che Schöp­fung steht eine erschre­cken­de Blind­heit für den zer­stö­re­ri­schen Umgang des Men­schen mit sich selbst und der ihm eige­nen Geschöpf­lich­keit gegen­über“, so die Salz­bur­ger Erklä­rung, die beim VI. Öku­me­ni­schen Bekennt­nis-Kon­gress der IKBG 2015 ver­ab­schie­det wur­de (Z.2). Schon vier Jah­re zuvor hat­te Papst Bene­dikt XVI. in sei­ner Rede im Deut­schen Bun­des­tag eben­falls die Sen­si­bi­li­tät der öko­lo­gi­schen Bewe­gung in der deut­schen Poli­tik gelobt, aber zugleich ihre Blind­heit gegen­über der Öko­lo­gie des Men­schen geta­delt. Anlass für die­sen Tadel war die Gen­der­ideo­lo­gie, die die Hete­ro­se­xua­li­tät für eine Kon­struk­ti­on der Gesell­schaft und der Kul­tur hält und die geschlecht­li­che Iden­ti­tät der frei­en Selbst­be­stim­mung des Men­schen unter­wirft, die also dem bibli­schen Ver­ständ­nis von Geschöpf­lich­keit und Lie­be wider­spricht und letzt­lich auf eine leib­feind­li­che Gno­sis hin­aus­läuft. Die Gen­der­ideo­lo­gie ist ein Aspekt der Kul­tur des Todes. Sie unter­wirft nicht nur Ehe und Fami­lie son­dern das Leben selbst dem Wil­len des Men­schen. Pro Choice ist ihr Stand­punkt, nicht Pro Life.

In den vier Jah­ren seit dem VI. Kon­gress ist die Lage weder in Deutsch­land noch in Euro­pa bes­ser gewor­den. Im Gegen­teil, die Gen­der­ideo­lo­gie und die Kul­tur des Todes haben zen­tra­le Berei­che der Rechts­ord­nung, der Gesell­schaft und selbst der Kir­chen ver­än­dert. Am 30. Juni 2017 hat sich der Bun­des­tag vom Ver­ständ­nis der Ehe als einem auf Dau­er und die Geburt von Kin­dern ange­leg­ten Bund von Mann und Frau ver­ab­schie­det und die Ehe für alle lega­li­siert. In den Kir­chen, selbst in der katho­li­schen, wird über die Seg­nung homo­se­xu­el­ler Part­ner­schaf­ten dis­ku­tiert und in man­chen evan­ge­li­schen Lan­des­kir­chen wird sie auch schon prak­ti­ziert. Rund die Hälf­te der Län­der der EU hat die Ehe für alle eben­falls lega­li­siert und die Län­der, die sich dage­gen wapp­nen wol­len, indem sie in ihren Ver­fas­sun­gen die Ehe als Bund von Mann und Frau und die Fami­lie als Gemein­schaft ver­schie­de­nen Geschlech­ter und Gene­ra­tio­nen defi­nie­ren, sehen sich der Kri­tik von Brüs­sel aus­ge­setzt. Die Sui­zid­as­sis­tenz wur­de zwar für Ver­ei­ne, die sie geschäfts­mä­ßig betrei­ben, ver­bo­ten, aber für Ange­hö­ri­ge des Sui­zi­den­ten und ihm nahe­ste­hen­de Per­so­nen, ein­schließ­lich der Ärz­te, aus­drück­lich erlaubt. Die auf der Gen­der­ideo­lo­gie beru­hen­de Sexu­al­päd­ago­gik der Viel­falt hat die Cur­ri­cu­la zahl­rei­cher Bun­des­län­der erobert, dar­un­ter auch sol­cher, die von Christ­de­mo­kra­ten regiert wer­den. Das Embryo­nen­schutz­ge­setz von 1990, das dem Schutz des Embry­os in der assis­tier­ten Repro­duk­ti­on und nicht der Repro­duk­ti­ons­frei­heit Erwach­se­ner dient, ist zahl­rei­chen Atta­cken von Repro­duk­ti­ons­me­di­zi­nern und ver­schie­de­nen Par­tei­en aus­ge­setzt, die es durch ein Repro­duk­ti­ons­me­di­zin­ge­setz erset­zen wol­len, um nach der Ehe für alle auch Kin­der für alle zu ermög­li­chen. In Frank­reich dis­ku­tiert die Natio­nal­ver­samm­lung gera­de ein Gesetz zur assis­tier­ten Repro­duk­ti­on (PMA=Procréation medi­cal­e­ment assis­tée sans père), durch das nicht nur die künst­li­che Befruch­tung für alle, son­dern auch Eizell­spen­de, Leih­mut­ter­schaft, die Her­stel­lung von Chi­mä­ren und die For­schung an Embryo­nen bis zum 14. Tag lega­li­siert wer­den sol­len. In ande­ren Län­dern der EU wie Spa­ni­en, Tsche­chi­en, Däne­mark, Bel­gi­en und Groß­bri­tan­ni­en sind Eizell­spen­den bereits erlaubt. Dies sind nur weni­ge Hin­wei­se auf Ent­wick­lun­gen seit 2015. Sie machen es nicht leicht, über die Zukunft Euro­pas zu reden, zumal Pro­fes­so­ren kei­ne Pro­phe­ten sind. Sie ver­ste­hen sich in der Regel eher auf Ana­ly­sen als auf Pro­phe­ti­en. Was ist die Kul­tur des Todes, wie soll Euro­pa ihr ent­ge­hen? Unter wel­chen Bedin­gun­gen lässt sich der Kul­tur des Todes eine Kul­tur des Lebens gegen­über­stel­len und festigen?

I. Die Kul­tur des Todes

Die Kul­tur des Todes ist ein sper­ri­ger Begriff. Sie hat nichts zu tun mit der ars mori­en­di, jener Kunst des Ster­bens eines rei­fen Men­schen, der dem Tod eben­so bewusst wie gelas­sen ent­ge­gen­geht, ja ihn, wie Franz von Assi­si, als Bru­der begrüßt. Sie hat auch nichts zu tun mit Mord und Tot­schlag, die es unter Men­schen gibt, seit Kain Abel erschlug, auf denen aber immer der Fluch des Ver­bre­chens lag. Als Kul­tur des Todes wer­den viel­mehr ein Ver­hal­ten einer­seits und gesell­schaft­li­che sowie recht­li­che Struk­tu­ren ande­rer­seits bezeich­net, die bestrebt sind, das Töten gesell­schafts­fä­hig zu machen, indem es als medi­zi­ni­sche Dienst­leis­tung oder als Sozi­al­hil­fe getarnt wird. Die Kul­tur des Todes will das Töten vom Fluch des Ver­bre­chens befrei­en. Sie hat sich seit 1974 in Deutsch­land und in vie­len Län­dern Euro­pas aus­ge­brei­tet – am Anfang des Lebens im Abtrei­bungs­straf­recht, das sich in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung immer mehr in ein Abtrei­bungs­recht ver­wan­delt hat, in der Lega­li­sie­rung der embryo­na­len Stamm­zell­for­schung und der Prä­im­plan­ta­ti­ons­dia­gnos­tik, in der assis­tier­ten Repro­duk­ti­on selbst, die das Tor zur Gen­chir­ur­gie geöff­net hat, und in der Sui­zid­bei­hil­fe in § 217 StGB. Die Kul­tur des Todes bedient sich ver­schie­de­ner Tarnkappen.

Unter der Tarn­kap­pe einer Ver­bes­se­rung des Lebens­schut­zes und einer Ein­däm­mung der Zahl der Abtrei­bun­gen lega­li­sier­te der Gesetz­ge­ber die Tötung unge­bo­re­ner Kin­der in den ers­ten drei Mona­ten einer Schwan­ger­schaft. In sei­ner letz­ten Reform 1995, die dem § 218 sei­ne heu­te gel­ten­de Fas­sung gibt, bekräf­tig­te der Bun­des­tag den Para­dig­men­wech­sel vom Lebens­schutz durch ein straf­be­wehr­tes Abtrei­bungs­ver­bot, das wenigs­tens noch auf dem Papier stand, zum Lebens­schutz durch eine Bera­tungs­pflicht, mit der er behaup­te­te, das unge­bo­re­ne Kind bes­ser schüt­zen zu kön­nen. Der Staat wur­de ver­pflich­tet, ein flä­chen­de­cken­des Netz nicht nur von Beratungs‑, son­dern auch von Abtrei­bungs­ein­rich­tun­gen vor­zu­hal­ten und eige­ne Sozi­al­hil­fe­re­ge­lun­gen zwecks Über­nah­me der Abtrei­bungs­kos­ten zu tref­fen. Das Schwan­ge­ren- und Fami­li­en­hil­fe­än­de­rungs­ge­setz von 1995 lässt „den Staat zum Kom­pli­zen der Tötung ver­kom­men“ (Her­bert Trönd­le). „Der Staat tötet“, so hat Josef Isen­see die Reform auf den Punkt gebracht.

Eine zwei­te Tarn­kap­pe der Kul­tur des Todes ist die Abtrei­bungs­sta­tis­tik. Sie sug­ge­riert seit Jah­ren fal­len­de Abtrei­bungs­zah­len, die den Ein­druck ver­mit­teln sol­len, die Reform des § 218 habe sich bewährt. 2,2 % weni­ger Abtrei­bun­gen im 2. Quar­tal 2019 mel­de­te das Sta­tis­ti­sche Bun­des­amt am 12.9.2019. In den 45 Jah­ren seit der Frei­ga­be der Abtrei­bung 1974 in West­deutsch­land und 1972 in der DDR sind nach der Sta­tis­tik des Sta­tis­ti­schen Bun­des­am­tes in Ost- und West­deutsch­land bis zum 30. Juni 2019 6.127.291 Kin­der getö­tet wor­den, nach plau­si­blen Schät­zun­gen aber mehr als zwölf Mil­lio­nen. Der Bun­des­tag wur­de durch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt 1993 zu einer Erfolgs­kon­trol­le sei­nes Para­dig­men­wech­sels ver­pflich­tet. Wäre er an die­ser Erfolgs­kon­trol­le wirk­lich inter­es­siert, müss­te er dem Auf­trag des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts nach­kom­men, das Gesetz zu kor­ri­gie­ren und nach­zu­bes­sern, wenn sich her­aus­stellt, dass das vom Grund­ge­setz gefor­der­te Maß an Schutz des unge­bo­re­nen Lebens nicht gewähr­leis­tet ist (BVerfGE 88, 203, 309). Zuver­läs­si­ge­re Zah­len könn­ten die Tarn­kap­pe, der Para­dig­men­wech­sel vom Lebens­schutz durch ein straf­be­wehr­tes Abtrei­bungs­ver­bot zum Lebens­schutz durch eine Bera­tungs­pflicht die­ne dem Lebens­schutz, zerreißen.

Die drit­te und bei wei­tem wir­kungs­volls­te Tarn­kap­pe der Kul­tur des Todes ist der Schein der Schwan­ger­schafts­kon­flikt­be­ra­tung, der eine Bera­tung zum Schutz des Kin­des doku­men­tie­ren soll. Eine Frau, die sich in einem Kon­flikt mit ihrer Schwan­ger­schaft befin­det und erwägt, das Kind abzu­trei­ben, muss sich die­sen Schein in einer aner­kann­ten Bera­tungs­stel­le aus­stel­len las­sen und dem Abtrei­bungs­arzt vor­le­gen. Der Schein ist, dar­an führt kein Weg vor­bei, eine Tötungs­li­zenz, derer weni­ger die Frau als viel­mehr der Arzt bedarf, um geset­zes­kon­form zu han­deln. Die Tötungs­li­zenz tarnt sich als Nach­weis einer Bera­tung, die nach § 219 StGB dem Schutz des unge­bo­re­nen Lebens die­nen und der Frau bewusst machen soll, „dass das Unge­bo­re­ne in jedem Sta­di­um der Schwan­ger­schaft auch ihr gegen­über ein eige­nes Recht auf Leben hat“, die gleich­zei­tig nach § 5 des Schwan­ger­schafts­kon­flikt­ge­set­zes aber „nicht beleh­ren und bevor­mun­den“ soll. Die Reform des § 218 macht somit, schrieb Papst Johan­nes Paul II. 1999 den deut­schen Bischö­fen, „den Lebens­schutz durch Bera­tung über den Nach­weis der Bera­tung zugleich zum Mit­tel der Ver­fü­gung über mensch­li­ches Leben“. Sie ver­kno­tet „in unent­wirr­ba­rer Wei­se Ja und Nein“ zum unge­bo­re­nen Leben. Des­halb kön­ne die Kir­che an die­sem Gesetz nicht mit­wir­ken. Vom eige­nen Lebens­recht des unge­bo­re­nen Kin­des bleibt in der mit dia­lek­ti­scher Raf­fi­nes­se kon­zi­pier­ten Bera­tungs­re­ge­lung nichts mehr übrig. Der Vor­gang, der dem Schutz sei­nes Lebens die­nen soll, ist eo ipso die Bedin­gung sei­ner nicht nur straf­lo­sen, son­dern staat­lich geför­der­ten Tötung.

Eine vier­te Tarn­kap­pe ist der seit August 2012 in der Prä­na­tal­dia­gnos­tik ange­bo­te­ne Prae­na­test. Er ver­spricht ein Mut­ter und Kind scho­nen­des nicht­in­va­si­ves Ver­fah­ren zur prä­na­ta­len Dia­gnos­tik. Mit­tels eines Blut­tests soll fest­ge­stellt wer­den, ob der Embryo bestimm­te Dis­po­si­tio­nen für Erkran­kun­gen hat. Der Test ver­mei­de die für den Embryo in 0,5 bis ein Pro­zent der Fäl­le töd­li­chen Risi­ken der inva­si­ven Amnio­zen­te­se (Frucht­was­ser­un­ter­su­chung) und der eben­falls inva­si­ven Cho­ri­on­zot­ten­bi­op­sie (Gewe­be­un­ter­su­chung). Der Gemein­sa­me Bun­des­aus­schuss der Ärz­te und Kran­ken­kas­sen hat im Sep­tem­ber ent­schei­den, dass die­ser Blut­test in den Leis­tungs­ka­ta­log der Kran­ken­kas­sen auf­ge­nom­men wer­den soll. Er die­ne der Beru­hi­gung der Schwan­ge­ren und wer­de auch, wie sei­ne medi­zi­ni­schen Anwäl­te (Holzgre­ve, Died­rich) beto­nen, immer prä­zi­ser. Dies ist jedoch nicht ein­mal die hal­be Wahr­heit. Der Prae­na­test dient in ers­ter Linie der Fahn­dung nach Embryo­nen mit Tri­so­mie 21, inzwi­schen aber auch mit ande­ren Auf­fäl­lig­kei­ten. Für Embryo­nen mit sol­chen Auf­fäl­lig­kei­ten ist er ein Todes­ur­teil. Des­halb wer­den Kin­der mit Tri­so­mie 21 auch kaum noch gebo­ren. Der Prae­na­test macht den Lebens­schutz vom Bestehen einer Prü­fung abhän­gig. Er steht dar­über hin­aus im Dienst öko­no­mi­scher Kal­ku­la­tio­nen. Ein flä­chen­de­cken­der Test ist für die Kran­ken­kas­sen bil­li­ger als die Ver­sor­gung von Kin­dern mit Tri­so­mie 21. Eltern, die ein Kind mit Tri­so­mie 21 nicht abtrei­ben, wer­den sich eines Tages recht­fer­ti­gen müs­sen, wes­halb sie ihre Mit­bür­ger mit erhöh­ten Kos­ten für ein „ver­meid­ba­res“ Schick­sal belasten.

Das Recht auf „sexu­el­le und repro­duk­ti­ve Gesund­heit“ ist eine fünf­te Tarn­kap­pe der Kul­tur des Todes. In zahl­rei­chen Unter­or­ga­ni­sa­tio­nen der Ver­ein­ten Natio­nen wird es seit eini­gen Jah­ren pro­pa­giert. Der Begriff „sexu­el­le und repro­duk­ti­ve Gesund­heit“ bzw. sexu­el­le und repro­duk­ti­ve „Selbst­be­stim­mung“ hat auch schon Ein­gang in gen­der­sen­si­ble Richt­li­ni­en für den schu­li­schen Sexu­al­kun­de­un­ter­richt gefun­den. Er umschreibt die For­de­rung nach einem Recht auf Abtrei­bung. Ein Recht auf Abtrei­bung ken­nen aber weder die Men­schen­rechts­er­klä­run­gen der Ver­ein­ten Natio­nen noch die des Euro­pa­ra­tes, noch die Akti­ons­pro­gram­me der Welt­be­völ­ke­rungs­kon­fe­renz von Kai­ro (1994) und der Welt­frau­en­kon­fe­renz von Peking (1995). Unter­or­ga­ni­sa­tio­nen der UN, aber auch zahl­rei­che Staa­ten der west­li­chen Welt, üben auf Län­der der Drit­ten Welt, die die Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung bis­her abge­lehnt haben, Druck aus, indem sie Ent­wick­lungs­hil­fe an die Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung kop­peln. Die Regie­rung Trump hat sich von die­ser Poli­tik distan­ziert. Sie för­dert Ein­rich­tun­gen der Ent­wick­lungs­hil­fe nur dann mit staat­li­chen Mit­teln, wenn die­se die Ent­wick­lungs­hil­fe nicht von der Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung abhän­gig machen. Zur Pro­pa­gie­rung des Rechts auf sexu­el­le und repro­duk­ti­ve Gesund­heit gehö­ren auch Bestre­bun­gen, die Gewis­sens­frei­heit von Ärz­ten, Pfle­ge­kräf­ten und Kli­nik­trä­gern, die sich wei­gern, an Abtrei­bun­gen mit­zu­wir­ken, ein­zu­schrän­ken (Elbe-Jeet­zel-Kli­nik, Dan­nen­berg, Febru­ar 2017), sowie Ver­su­che, via Anti-Fake-News-Geset­ze die Mei­nungs- und Infor­ma­ti­ons­frei­heit von Lebens­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen zu kne­beln, die in Wort und Bild über die blu­ti­ge Rea­li­tät von Abtrei­bun­gen berich­ten und auf das Post Abor­ti­on Syn­drom als Fol­ge einer Abtrei­bung hinweisen.

Die deut­sche Rege­lung der Sui­zid­bei­hil­fe ist eine sechs­te Tarn­kap­pe der Kul­tur des Todes. Der 2015 vom Bun­des­tag ver­ab­schie­de­ten § 217 StGB ver­bie­tet zwar die „geschäfts­mä­ßi­ge“, d.h. von Ster­be­hil­fe­or­ga­ni­sa­tio­nen wie Exit und Digni­tas gegen Hono­rar ange­bo­te­ne Sui­zid­bei­hil­fe, erlaubt aber aus­drück­lich die pri­va­te Ster­be­hil­fe von Ange­hö­ri­gen oder dem Sui­zi­den­ten nahe­ste­hen­den Per­so­nen. Zu den nahe­ste­hen­den Per­so­nen zählt auch der Haus­arzt. (Win­fried Har­ding­haus, Deut­scher Hos­piz- und Pal­lia­tiv­ver­band: drei akzep­ta­bel, sie­ben bedenk­lich). Die­se Rege­lung ver­kno­tet, wie schon die Bera­tungs­re­ge­lung im Schwan­ger­schafts­kon­flikt, das Ja und das Nein zum Lebens­schutz in unent­wirr­ba­rer Wei­se. Dass der neue § 217 „ein star­kes Zei­chen für den Lebens­schutz und ein Ster­ben in Wür­de“ sein soll, wie Kar­di­nal Marx im Namen der DBK und der Rats­vor­sit­zen­de der EKD Bedford-Strohm erklär­ten, ist nicht nach­voll­zieh­bar. Der neue § 217 ver­schlech­tert den Lebensschutz.

Inwie­weit gehört die künst­li­che Befruch­tung zur Kul­tur des Todes? Sie ist sowohl unter dem Aspekt der Wei­ter­ga­be des Lebens als auch dem des Lebens­schut­zes ein Pro­blem. Sie führt zu einer gro­ßen Zahl soge­nann­ter „über­zäh­li­ger“ oder „ver­wais­ter“ Embryo­nen, die dem Tod geweiht sind. Es wer­den viel mehr Embryo­nen erzeugt als in die Gebär­mut­ter implan­tiert wer­den kön­nen. Auf ein nach IVF gebo­re­nes Kind kom­men rund 17, die ver­wor­fen wer­den. Die nicht­im­plan­tier­ten Embryo­nen bzw. „Vor­kern­sta­di­en“ wer­den ein­ge­fro­ren. Wer­den die Embryo­nen um der For­schung wil­len getö­tet, wird mani­fest, dass sie nicht als Per­so­nen geach­tet, son­dern als Roh­stoff ver­wer­tet wer­den. Dies ver­such­te der Gesetz­ge­ber 1990 durch das Embryo­nen­schutz­ge­setz zu ver­hin­dern. Es gestat­te­te die künst­li­che Befruch­tung nur zum Zweck der Her­bei­füh­rung einer Schwan­ger­schaft bei der Frau, von der die Eizel­len stam­men und ver­bot die Befruch­tung von mehr als drei Eizel­len. Das Gesetz woll­te den Schutz des Embry­os, nicht die Repro­duk­ti­ons­frei­heit der Eltern sicher stel­len. Repro­duk­ti­ons­me­di­zi­ner emp­fin­den es als Fes­sel und wür­den es gern, wie schon erwähnt, durch ein Repro­duk­ti­ons­me­di­zin­ge­setz ablö­sen. Aber auch dann, wenn der Frau nur die erlaub­ten drei Embryo­nen implan­tiert wer­den, wird der Lebens­schutz zum Pro­blem. Wel­che Frau wünscht sich Dril­lin­ge? Der offen­kun­digs­te Ver­stoß gegen den Lebens­schutz ist der euphe­mis­tisch „Mehr­lings­re­duk­ti­on“ oder „feta­le Reduk­ti­on“ genann­te Feto­zid nach erfolg­rei­cher Implan­ta­ti­on meh­re­rer Embryo­nen, also die Tötung eines Embry­os oder meh­re­rer Embryo­nen in der Gebär­mut­ter, wenn sich mehr als gewünscht ein­ge­nis­tet haben. Die Lage für die Eltern ist gewiss dra­ma­tisch. Die assis­tier­te Repro­duk­ti­on zwingt sie zu para­do­xen Ent­schei­dun­gen. Sie wol­len ein Kind, ent­schlie­ßen sich aber bei der Mehr­lings­re­duk­ti­on zugleich, ein Kind oder meh­re­re töten zu lassen.

Das Embryo­nen­schutz­ge­setz steht auf zer­brech­li­chen Füßen. Der Gesetz­ge­ber selbst hat es inzwi­schen schon zwei­mal geschwächt – ein ers­tes Mal 2002 durch das Stamm­zell­ge­setz mit dem einer Tarn­kap­pe glei­chen­den Titel „Gesetz zur Sicher­stel­lung des Embryo­nen­schut­zes im Zusam­men­hang mit Ein­fuhr und Ver­wen­dung mensch­li­cher embryo­na­ler Stamm­zel­len“, das die Ein­fuhr und Ver­wen­dung embryo­na­ler Stamm­zel­len grund­sätz­lich ver­bie­tet, zugleich aber zu For­schungs­zwe­cken erlaubt, wenn die Stamm­zel­len von ver­wais­ten oder über­zäh­li­gen Embryo­nen stam­men und vor dem 1. Mai 2007 gewon­nen wur­den. Von den Ver­hei­ßun­gen der Stamm­zell­for­scher bezüg­lich der The­ra­pien unheil­ba­rer Krank­hei­ten ist nach 20 Jah­ren noch kei­ne ver­wirk­licht wor­den. Ein zwei­tes Mal wur­de das Gesetz 2011 durch einen neu­en § 3 a geschwächt, der wie schon das Stamm­zell­ge­setz und die refor­mier­ten §§ 218ff. StGB das Ja und das Nein zum Lebens­schutz in unent­wirr­ba­rer Wei­se ver­kno­tet: Er ver­bie­tet die gene­ti­sche Unter­su­chung eines Embry­os in vitro, erklärt aber zugleich eine PID für „nicht rechts­wid­rig“, wenn auf Grund der gene­ti­schen Dis­po­si­ti­on der Eltern für den Nach­wuchs das Risi­ko einer schwer­wie­gen­den Erb­krank­heit besteht oder wenn eine schwer­wie­gen­de Schä­di­gung des Embry­os zu erwar­ten ist. Das Recht auf Leben wird also abhän­gig gemacht vom Ergeb­nis einer Dia­gnos­tik. Dem ist ent­ge­gen zu hal­ten: Das Recht auf Leben ist weder von der Qua­li­tät noch von der zu erwar­ten­den Dau­er des Lebens abhän­gig. Es steht auch dem kran­ken und dem behin­der­ten Embryo zu und dem, des­sen Lebens­er­war­tung nur weni­ge Tage oder Stun­den beträgt.

I. Die Zukunft Europas

Wie soll Euro­pa der Kul­tur des Todes ent­ge­hen? Unter wel­chen Bedin­gun­gen lässt sich der Kul­tur des Todes eine Kul­tur des Lebens gegen­über­stel­len? Was kenn­zeich­net eine Kul­tur des Lebens? Einen Hin­weis gab bereits die Salz­bur­ger Erklä­rung. Sie lenk­te den Blick auf die Öko­lo­gie des Men­schen und unter­strich: „Zur Öko­lo­gie des Men­schen gehört … eine neue Wert­schät­zung von Vater­schaft und Mut­ter­schaft und ihrer Bedeu­tung für die Gesell­schaft“ (Z.26). Zur Öko­lo­gie des Men­schen gehört eine neue Wert­schät­zung der Fami­lie als einer auf Dau­er ange­leg­ten Gemein­schaft ver­schie­de­ner Geschlech­ter und Generationen.

1. Die Bedeu­tung der Familie

Jedes Land hat ein vita­les Inter­es­se, so der 5. Fami­li­en­be­richt der Bun­des­re­gie­rung (1994), „die­je­ni­gen pri­va­ten Lebens­for­men beson­ders aus­zu­zeich­nen, zu schüt­zen und zu för­dern, wel­che Leis­tun­gen erbrin­gen, die nicht nur für die Betei­lig­ten, son­dern auch für die übri­gen Gesell­schafts­be­rei­che not­wen­dig sind.“ Die Lebens­form, von der hier die Rede ist, ist die Ehe und die aus ihr her­vor­ge­hen­de Fami­lie. Seit Jahr­hun­der­ten wer­den Ehe und Fami­lie in sehr ver­schie­de­nen poli­ti­schen Sys­te­men, in ver­schie­de­nen Kul­tu­ren und Reli­gio­nen mora­lisch wie recht­lich geschützt, geför­dert und pri­vi­le­giert, weil sie nicht nur den Wün­schen der betei­lig­ten Per­so­nen ent­spre­chen, son­dern der gan­zen Gesell­schaft Vor­tei­le brin­gen. Ehe und Fami­lie sor­gen zum einen für die phy­si­sche Rege­ne­ra­ti­on der Gesell­schaft, mit­hin für ihre Zukunft, und zum ande­ren für die Bil­dung des Human­ver­mö­gens der nächs­ten Gene­ra­ti­on. Ehe und Fami­lie sor­gen in der Regel für die Geburt von Kin­dern, nicht weil die Eltern an die Zukunft der Gesell­schaft den­ken, son­dern weil sie sich lie­ben. Die Zeu­gung eines Kin­des ist die Inkar­na­ti­on ihrer Lie­be. Homo­se­xua­li­tät ist dem­ge­gen­über „eine zur Fort­pflan­zung und Eröff­nung einer Zukunft des Men­schen grund­sätz­lich unfä­hi­ge Gestalt von Sexua­li­tät“, so die Salz­bur­ger Erklä­rung (Z. 28). Homo­se­xu­el­le Part­ner­schaf­ten kön­nen des­halb nicht mit der Ehe gleich­ge­stellt wer­den. Sie sind gene­ra­tio­nen­blind und lebens­feind­lich. Wer die „Ehe für alle“ ablehnt, macht sich des­halb weder der Homo­pho­bie noch der Dis­kri­mi­nie­rung schuldig.

Das Human­ver­mö­gen, das pri­mär in der Fami­lie erwor­ben wird, ist die Gesamt­heit der Daseins- und Sozi­al­kom­pe­ten­zen des Men­schen, die dem Erwerb von beruf­li­chen Fach­kom­pe­ten­zen vor­aus­lie­gen. Die­se Daseins- und Sozi­al­kom­pe­ten­zen sind für die Ent­wick­lung der Gesell­schaft, der Wirt­schaft und der Kul­tur von kaum zu über­schät­zen­der Bedeu­tung. In der Fami­lie wer­den die Wei­chen gestellt für die mora­li­schen und emo­tio­na­len Ori­en­tie­run­gen des Her­an­wach­sen­den, für sei­ne Lern- und Leis­tungs­be­reit­schaft, für sei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Bin­dungs­fä­hig­keit, sei­ne Zuver­läs­sig­keit und Arbeits­mo­ti­va­ti­on, sei­ne Kon­flikt- und Kom­pro­miss­fä­hig­keit und sei­ne Bereit­schaft zur Grün­dung einer eige­nen Fami­lie, zur Wei­ter­ga­be des Lebens und zur Über­nah­me von Ver­ant­wor­tung für ande­re. In der Fami­lie wird über den Erfolg im schu­li­schen und beruf­li­chen Erzie­hungs- und Aus­bil­dungs­sys­tem, auf dem Arbeits­markt und in der Bewäl­ti­gung des Lebens vor­ent­schie­den. In der Fami­lie lernt das Kind, was lie­ben und geliebt wer­den heißt, was es kon­kret besagt, Per­son zu sein.

Die Bedeu­tung der Fami­lie als Res­sour­ce für das Gemein­wohl wird noch ein­mal deut­lich, wenn die Fol­gen unter­sucht wer­den, die das Zer­bre­chen von Fami­li­en und die Rela­ti­vie­rung der Ehe ver­ur­sa­chen. Die­se Fol­gen betref­fen zunächst die Ehe­leu­te selbst, dann die Kin­der, schließ­lich die Gesell­schaft und den Staat und nicht zuletzt gene­ra­tio­nen­über­grei­fend die demo­gra­phi­sche Ent­wick­lung. Sie glei­chen einer patho­lo­gi­schen Spi­ra­le. Das Schei­tern einer Fami­lie ver­min­dert Gesund­heit, Wohl­stand und Wohl­be­fin­den – die drei Din­ge, an denen die Men­schen in der Regel am meis­ten inter­es­siert sind. Ver­min­der­te Gesund­heit, ver­min­der­ter Wohl­stand und ver­min­der­tes Wohl­be­fin­den belas­ten die Bezie­hun­gen und ver­stär­ken und per­p­etu­ie­ren so den Teu­fels­kreis des Scheiterns.

2. Die Bedeu­tung kul­tu­rel­ler und insti­tu­tio­nel­ler Rahmenbedingungen

Zu einer Kul­tur des Lebens gehö­ren aber neben der neu­en Wert­schät­zung der Fami­lie wei­te­re kul­tu­rel­le und insti­tu­tio­nel­le Rah­men­be­din­gun­gen, die die Iden­ti­tät Euro­pas geprägt haben. „Die euro­päi­sche Iden­ti­tät ist kei­ne leicht erfass­ba­re Wirk­lich­keit“, sag­te Papst Jo­hannes Paul II. in einer Anspra­che im Eu­roparat 1988 in Straß­burg. „Die weit zurück­lie­gen­den Quell­grün­de die­ser Zivi­li­sa­ti­on sind viel­fäl­tig. Sie stam­men aus Grie­chen­land und aus Rom, aus kel­ti­schem, ger­ma­ni­schem und sla­wi­schem Boden, aus dem Chris­ten­tum, das sie tief geprägt hat. Und wir wis­sen, wel­che Ver­schie­den­hei­ten an Spra­chen, Kul­tu­ren, Rechts­tra­di­tio­nen die Natio­nen, die Regio­nen und auch die Insti­tu­tio­nen kenn­zeich­nen! Aber im Hin­blick auf die ande­ren Kon­ti­nen­te erscheint Euro­pa wie eine ein­zi­ge Ein­heit, auch wenn der inne­re Zusam­men­hang von denen, die zu Euro­pa gehö­ren, weni­ger klar erfasst wird. Die­ser Blick kann Euro­pa hel­fen, sich selbst bes­ser wie­der­zufinden. In fast zwan­zig Jahr­hun­der­ten hat das Chris­ten­tum dazu bei­getra­gen, eine Sicht der Welt und des Men­schen zu ent­wi­ckeln, die heu­te ein grund­le­gen­der Bei­trag bleibt – jen­seits der Zer­ris­sen­heit, der Schwä­chen, ja sogar der Ver­säum­nis­se der Chris­ten selbst.“ In die­ser Sicht der Welt, des Men­schen und der Gesell­schaft will ich eini­ge Dimen­sio­nen unter­strei­chen, die Euro­pas spe­zi­fi­sche Iden­ti­tät ausmachen.

a) Die Unter­schei­dung zwi­schen geist­li­chen Ange­le­gen­hei­ten und welt­li­chen Din­gen oder zwi­schen Reli­gi­on und Poli­tik steht am Anfang der moder­nen euro­päi­schen Iden­ti­tät. Im anti­ken Grie­chen­land und im Impe­ri­um Roma­n­um waren Reli­gi­on und Poli­tik noch eine Ein­heit. Die­se Ein­heit führ­te vie­le der ers­ten Chris­ten ins Mar­ty­ri­um, weil sie sich wei­ger­ten, den römi­schen Kai­ser als einen Gott zu ver­eh­ren. Aus den Kon­flik­ten der ers­ten Chris­ten mit den poli­tisch-reli­giö­sen Auto­ri­tä­ten ent­wi­ckel­te sich die bis heu­te gül­ti­ge und den frei­heit­li­chen Ver­fas­sungs­staat tra­gen­de Unter­schei­dung zwi­schen Spi­ri­tua­lia und Tem­po­ra­lia, zwi­schen Reli­gi­on und Poli­tik. Nicht nur die res publi­ca, die Welt schlecht­hin wird ent­gött­licht. Die Poli­tik wird rela­tiviert, die Herr­schafts­ge­walt des Königs beschränkt.

b) Der christ­li­che Glau­be schärft den Blick für den Wert des ein­zel­nen Men­schen, um des­sent­wil­len Chris­tus selbst Men­schen­na­tur ange­nom­men hat. Der Mensch ist Per­son. Er hat eine unan­tast­ba­re und unver­äu­ßer­li­che Wür­de, die – so auch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in sei­nem Urteil zum Abtreibungsstraf­recht 1993, „schon dem unge­bo­re­nen mensch­li­chen Leben zu­kommt“. Der Mensch ist Got­tes Eben­bild, d.h. nicht nur von Gott geschaf­fen, son­dern sich nach ihm seh­nend, auf ihn hin lebend und in ihm sei­ne Voll­endung fin­dend. „Das bibli­sche Men­schen­bild hat es“ – so Johan­nes Paul II. vor dem Euro­pa­rat 1988 – „den Euro­pä­ern gestat­tet, eine gro­ße Vor­stel­lung von der Wür­de des Men­schen als Per­son zu ent­wi­ckeln, die einen wesent­li­chen Wert auch für diejeni­gen bedeu­tet, die kei­nen reli­giö­sen Glau­ben haben“.

c) Ein wich­ti­ges Merk­mal euro­päi­scher Iden­ti­tät ist die posi­ti­ve Ein­stel­lung zur Welt. Sie ist die Grund­la­ge der Erfor­schung der Natur in der Wis­sen­schaft, die Grund­la­ge auch der Tech­nik und der Indus­trie, des Han­dels und einer glo­ba­len Poli­tik. Die­se neu­gie­ri­ge Hin­wen­dung zur Welt begann gewiß schon in der grie­chi­schen Anti­ke. Aris­to­te­les ist eben­so ihr Reprä­sen­tant wie Alex­an­der der Gro­ße. Aber sie erhielt mit dem Chris­ten­tum eine neue Qua­li­tät. Nicht nur der Auf­trag des Buches Gene­sis an den Men­schen, sich die Welt, die Gott geschaf­fen und als gut bezeich­net hat­te, unter­tan zu machen, ver­pflich­te­te ihn auf die­se Welt, son­dern viel mehr noch die Inkar­na­ti­on selbst. Wenn Gott sich nicht zu scha­de war, selbst Mensch zu wer­den und in die­se Welt zu kom­men, dann kann auch der Christ kein Feld sei­nes all­täg­li­chen Lebens von sei­ner Ver­pflich­tung zur Nach­fol­ge Chris­ti, sei­nem Auf­trag, sich selbst und die Welt zu hei­li­gen, aus­spa­ren. Der Christ lebt sei­nen Glau­ben nicht nur im Tem­pel, im Got­tes­dienst oder beim Opfer, son­dern im all­täg­li­chen Leben in Fami­lie und Beruf. Er hat sei­ne täg­li­che Arbeit in Gebet zu ver­wan­deln und die Welt zu lie­ben – nicht jene Welt der Hof­fart, des Stol­zes, der Begier­de und der Prah­le­rei, vor der Johan­nes warnt (1 Joh 2,15), son­dern die Welt, die zu ret­ten Jesus Mensch wur­de und aus der sei­ne Jün­ger nicht her­aus­zu­neh­men er sei­nen Vater bit­tet (Joh 17,15). Jesu Mensch­wer­dung in Bet­le­hem impli­ziert den Welt­auf­trag für jeden Chris­ten. Nicht die Ver­ach­tung der Welt, son­dern die Hei­li­gung der Welt ist der Auf­trag der Chris­ten. Die Flucht aus dem All­tag, der Rück­zug in from­me oder beque­me Nischen ist ihm verwehrt.

d) Die Men­schen­rech­te sind gewiss eine spä­te Entwick­lung in der euro­päi­schen Kul­tur. Erst am Ende des 18. Jahr­hun­derts wer­den sie erst­mals for­mu­liert. Da sie wäh­rend der Fran­zö­si­schen Revolu­tion und in den lai­zis­ti­schen Tra­di­tio­nen des 19. Jahr­hun­derts in Euro­pa oft als Waf­fe gegen die Kir­che benutzt wur­den, gestal­te­te sich das Ver­hält­nis der Kir­che zu den Men­schen­rech­ten über ein­ein­halb Jahr­hun­der­te hin­weg als schwie­rig und kon­fliktreich. Die mensch­li­che Frei­heit wur­de als Befrei­ung von Gott miss­ver­stan­den. Die­se Span­nung lös­te sich erst in der Mit­te des 20. Jahr­hun­derts. Den­noch wage ich mit Josef Isen­see zu sagen: Das Chris­ten­tum hat den Men­schen­rech­ten den Boden berei­tet. „Christ­li­ches Erbe in den Men­schen­rech­ten sind die Leit­ge­dan­ken von der Ein­heit des Menschenge­schlechtes und von der Gleich­heit sei­ner Glie­der, von der Ein­ma­lig­keit und Wür­de eines jeden Men­schen als Per­son, unver­füg­bar den ande­ren und sich selbst, beru­fen zu Eigen­ver­ant­wor­tung, zu Nächs­ten­lie­be und zur Bewäh­rung in die­ser Welt. Nur im christ­li­chen Kul­tur­kreis … konn­ten die Men­schen­rech­te sich entwic­keln“. Der Mensch hat die­se Rech­te, weil er Mensch ist, also von Natur aus. Der Staat ist zwar für ihre Durch­set­zung von Bedeu­tung, aber er schafft sie nicht. Sie haben eine natur­recht­li­che Wur­zel. In gera­de­zu klas­si­scher Wei­se bringt dies das Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land in Arti­kel 1 zum Aus­druck: „Die Wür­de des Men­schen ist unan­tast­bar. Sie zu ach­ten und zu schüt­zen ist Ver­pflich­tung aller staat­li­chen Gewalt. Das deut­sche Volk bekennt sich dar­um zu unver­letz­li­chen und unver­äu­ßer­li­chen Men­schen­rech­ten als Grund­la­ge jeder mensch­li­chen Gemein­schaft, des Frie­dens und der Gerech­tig­keit in der Welt. Die nach­fol­gen­den Grund­rech­te bin­den Gesetz­ge­bung, voll­zie­hen­de Gewalt und Recht­spre­chung als unmit­tel­bar gelten­des Recht“.

e) Zur Iden­ti­tät Euro­pas gehört der frei­heit­li­che Ver­fas­sungs­staat, des­sen Zweck die Herr­schaft des Rechts, die Gewähr­leis­tung der Men­schen­rech­te und damit die Siche­rung der Frei­heit der Bür­ger ist. Der frei­heit­li­che Ver­fas­sungs­staat ermög­licht die Betei­li­gung der Bür­ger an der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung. Er ist das Fun­da­ment der Demo­kra­tie. Er ver­langt die Tei­lung der poli­ti­schen Gewal­ten. Er hat sei­ne Wur­zeln in der athe­ni­schen Polis, in den Nomoi Pla­tons und der „Poli­tik“ sowie der „Niko­ma­chi­schen Ethik“ des Aris­to­te­les, aber auch in der römi­schen Res publi­ca und in Cice­ros „De offi­ci­is“. Im frei­heit­li­chen Ver­fas­sungs­staat zeigt sich aber auch das Erbe des Chri­stentums. Die gleich­be­rech­tig­te Teil­nah­me aller Bür­ger am poli­ti­schen Willensbil­dungsprozess, die die athe­ni­sche Polis und die römi­sche Res publi­ca nicht kann­ten, ist eine logi­sche Kon­se­quenz des christ­li­chen Men­schen­bil­des. Es beton­te die Gleich­heit der Wür­de aller Men­schen und führ­te, wenn auch nach lan­gen Kämp­fen, zur Abschaf­fung der Skla­ve­rei. Zu die­sem Men­schen­bild gehört auch die Ambi­va­lenz der mensch­li­chen Natur. Der Mensch kann gut oder böse, kon­struk­tiv oder destruk­tiv han­deln. Er kann die politi­sche Macht zur För­de­rung des Gemein­wohls, aber auch zu sei­ner Zer­stö­rung gebrau­chen. Dar­aus zieht der frei­heit­li­che Ver­fas­sungs­staat die Kon­se­quenz, die poli­ti­sche Macht auf die Legis­la­ti­ve, die Exe­ku­ti­ve und die Judi­ka­ti­ve zu ver­tei­len, um so eine Balan­ce und eine gegen­sei­ti­ge Kon­trol­le zu errei­chen. Gewal­ten­tei­lung heißt Macht­be­gren­zung. Ein ers­ter Schritt zur Macht­be­gren­zung war bereits die Unter­schei­dung zwi­schen Spi­ri­tua­lia und Tem­po­ra­lia. Aber die Gewalten­teilung geht dar­über hin­aus. Sie bän­digt mit der Tren­nung und gegen­sei­ti­gen Kon­trolle legis­la­ti­ver, exe­ku­ti­ver und judi­ka­ti­ver Macht die Tem­po­ra­lia selbst. Sie will die Ver­su­chung zum Macht­miss­brauch mini­mie­ren und da, wo Macht den­noch miss­braucht wird, die schäd­li­chen Fol­gen begrenzen.

f) Dass der Staat nicht nur Rechts­staat, son­dern auch Sozi­al­staat sein muss, auch das gehört zu dem, was Euro­pas Iden­ti­tät aus­macht. Der sozia­le Rechts­staat sorgt nicht nur für Recht und Sicher­heit, son­dern auch für men­schen­wür­di­ge Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen. Er schützt die Bür­ger gegen Ein­kom­mens­ri­si­ken, die aus Krank­heit, Inva­li­di­tät, Alter und Arbeits­lo­sig­keit erwach­sen. Er gewähr­leis­tet mit der sozia­len Sicher­heit sozia­le Gerech­tig­keit, gesell­schaft­li­che Inte­gra­ti­on und indi­vi­du­el­le Frei­heit. Die­se Auf­ga­be des Gemein­we­sens ist ein christ­li­ches Erbe. Schon im Mit­tel­al­ter galt die Sor­ge für die Armen, die Wit­wen und die Wai­sen als Auf­ga­be des christ­li­chen Gemein­we­sens, derer sich die Klös­ter, die Orden, die Spi­tä­ler und Hos­pi­ze annah­men. Sie setzt die Fähig­keit zum Mit­lei­den mit dem in Not gera­te­nen Mit­men­schen vor­aus. Dazu gehört auch das Asyl­recht. Wer auf Grund sei­ner Volks- oder Stam­mes­zu­ge­hö­rig­keit, sei­ner Ras­se, sei­nes Geschlechts oder sei­ner Reli­gi­on ver­folgt wird, hat das Recht auf Asyl, solan­ge die Ver­fol­gung anhält. Wer vor einem Krieg flieht, hat das Recht auf Schutz, solan­ge der Krieg dau­ert, und die Pflicht zur Rück­kehr, wenn der Krieg been­det ist. Die­se Pflicht ist nicht abhän­gig vom Grad der Zer­stö­rung bzw. des Wie­der­auf­baus des Her­kunfts­lan­des oder vom Grad der Inte­gra­ti­on in das Flucht­land. Armut, wirt­schaft­li­che Not oder die Aus­wir­kun­gen von Kri­sen und Krie­gen rei­chen eben­so wenig für die erfolg­rei­che Beru­fung auf das Asyl­recht aus wie die Flucht vor poli­ti­scher Insta­bi­li­tät. Ein sozia­ler Rechts­staat hat die Pflicht, zwi­schen Ver­folg­ten, Kriegs­flücht­lin­gen und Migran­ten zu dif­fe­ren­zie­ren. Die­se Dif­fe­ren­zie­rung ist die Vor­aus­set­zung, um bei der Bewäl­ti­gung der Flucht von meh­re­ren Mil­lio­nen Men­schen aus den Kriegs­ge­bie­ten des Nahen und Fer­nen Ostens und aus Afri­ka sowohl der Not der Flücht­lin­ge als auch dem Recht und der Pflicht jedes Staa­tes auf Kon­trol­le sei­ner Gren­zen, mit­hin dem Gemein­wohl des Ein­wan­de­rungs­lan­des gerecht zu wer­den. Zu die­ser Pflicht gehört auch die Prü­fung der Bereit­schaft und der Fähig­keit der Migran­ten zur Integration.

g) Eine letz­te Dimen­si­on euro­päi­scher Iden­ti­tät ist die inter­na­tio­na­le Koope­ra­ti­on. Wie kein ande­rer Kon­ti­nent hat Euro­pa im 20. Jahr­hun­dert inter­na­tio­na­le Koope­ra­ti­ons- und Inte­gra­ti­ons­struk­tu­ren ent­wi­ckelt. Skep­ti­ker mögen dem ent­ge­gen­hal­ten, dass auch von kei­nem ande­ren Kon­ti­nent der­ar­ti­ge natio­na­lis­ti­sche Abgren­zun­gen und Krie­ge aus­gin­gen wie von Euro­pa. Dies gehört in der Tat zu den Schat­ten­sei­ten des­sen, was Euro­pa aus­macht. Aber zu dem, was Euro­pa aus­macht, gehört auch das kon­ti­nu­ier­li­che und erfolg­rei­che Bemü­hen um Ver­söh­nung, um Koope­ra­ti­on, um völ­ker­recht­li­che Struk­tu­ren und um Inte­gra­ti­on. „Wenn man ‚Euro­pa‘ sagt, soll das ‚Öff­nung‘ hei­ßen“, schrieb Johan­nes Paul II. in Eccle­sia in Euro­pa (2003) Euro­pa habe sich dadurch auf­ge­baut, dass es über die Mee­re hin­weg auf ande­re Völ­ker, ande­re Kul­tu­ren, ande­re Zivi­li­sa­tio­nen zuge­gan­gen ist.

Die­ses Euro­pa zu erhal­ten ist eine Her­aus­for­de­rung für die Chris­ten, auch wenn ihr Glau­be vie­ler­orts schwach gewor­den ist. Es ist ihre Auf­ga­be, die eige­nen Wur­zeln neu zu ent­de­cken und eine Zivi­li­sa­ti­on zu ent­wi­ckeln, die zugleich christ­li­cher und mensch­lich rei­cher ist. Das Kreuz ist das Logo die­ser Zivi­li­sa­ti­on. „Die Erneue­rung Euro­pas muss ihren Aus­gangs­punkt neh­men vom Dia­log mit dem Evan­ge­li­um“, erklär­te die Son­der-Syn­ode der Bischö­fe für Eu­ropa 1991 nach dem Fall der Mau­er und des Eiser­nen Vor­hangs. Für die Neue­van­ge­li­sie­rung Euro­pas „genügt es des­halb nicht, sich um die Ver­brei­tung der ‚Wer­te des Evan­ge­li­ums‘ wie Gerech­tig­keit und Frie­den zu bemü­hen. Wir kom­men nur dann zu einer wirk­lich christ­li­chen Evan­ge­li­sie­rung, wenn die Per­son Jesu Chris­ti ver­kün­det wird.“ Dass dies nicht ein­fach ist, hat schon der Apos­tel Pau­lus auf dem Areo­pag in Athen und auch in Korinth erfah­ren. Dass es den­noch gelin­gen kann, zeigt die Geschich­te Euro­pas, zei­gen die Hei­li­gen und die Begeg­nun­gen Johan­nes Pauls II. und Bene­dikts XVI. mit Jugend­li­chen aus aller Welt bei den Welt­ju­gend­tref­fen, aus denen vie­le Beru­fun­gen her­vor­gin­gen, eben­so die Euro­päi­schen Jugend­tref­fen der öku­me­ni­schen Gemein­schaft von Tai­zé. „Habt kei­ne Angst! Öff­net, ja reißt die Tore weit auf für Chris­tus!“ Mit die­sem Wort begann Johan­nes Paul II. am 22. Okto­ber 1978 sein Pon­ti­fi­kat, in dem die Spal­tung Euro­pas über­wun­den wur­de. Habt kei­ne Angst! Die­ses Wort gilt auch uns im 21. Jahr­hun­dert. Mit einem lan­gen Gesicht und mit Weh­lei­dig­keit hät­ten die ers­ten Chris­ten die Welt nicht ver­än­dert. Hin­ter ihrer Bot­schaft stand die froh machen­de Erfah­rung, Jesus, dem Erlö­ser, nahe zu sein. Wo Jesus in die Nähe kommt, schreibt Josef Ratz­in­ger, „da ent­steht Freu­de. Lukas, der Evangelist,…hat die­sen Faden nicht aus dem Auge ver­lo­ren. Der letz­te Satz des Evan­ge­li­ums sagt uns näm­lich: Als die Jün­ger den Herrn hat­ten auf­fah­ren sehen, da gin­gen sie weg, das Herz voll Freu­de (Lk 24,25)… Rein mensch­lich wür­den wir erwar­ten, voll Ver­wir­rung. Nein, wer den Herrn nicht nur von außen gese­hen hat, wer sich sein Herz von ihm berüh­ren ließ, wer den Gekreu­zig­ten ange­nom­men hat und, eben weil er den Gekreu­zig­ten ange­nom­men hat, die Gna­de der Auf­er­ste­hung kennt, der muss vol­ler Freu­de sein“ (Die­ner eurer Freu­de, 1988, S.48f.). „Macht euch kei­ne Sor­gen; denn die Freu­de am Herrn ist eure Stär­ke“ (Buch Neh­emia 8, 10).

Prof. Dr. Man­fred Spie­ker (Osna­brück)

Vor­trag beim VIII. Öku­me­ni­schen Bekennt­nis­kon­gress der Inter­na­tio­na­len Kon­fe­renz beken­nen­der Gemein­schaf­ten „Quo vadis Euro­pa? Euro­pa als Her­aus­for­de­rung für die Chris­ten“ am 5. Okto­ber 2019 in Hofgeismar

Aus: Dia­k­ri­sis, 40. Jahr­gang, Dezem­ber 2019

Quel­le: Gemein­de­netz­werk